05.09.2024 08:47
Von entspannt bis angespannt
Gastronomie am Verzweifeln
Hunderte Millionen investierte der Bund seit 2011 in die Entschärfung des Fachkräftemangels. Nun wird er kritisiert: Gebracht hätten die Bemühungen wenig. Die Arbeitgeber in der Region sind trotzdem mehrheitlich entspannt. Ein Personalmangel sei allgemein nicht vorhanden. Die Gastronomie hingegen ist am Verzweifeln.
Kreuzlingen Der Fachkräftemangel ist ein Dauerthema in der Gastronomie. «Es ist brutal. Alle wollen ins Büro. Um Servicepersonal zu finden, müssen die Gastronomen auf die Bedingungen in Sachen Lohn und Arbeitszeiten der Bewerbenden eingehen», so Marcel Siegwart, Präsident von Gastro Thurgau. Die Unterstützungsmassnahmen hielten sich laut Siegwart in Grenzen: Ausser der Beteiligung an Weiterbildungskosten der Mitarbeitenden, sei «nichts gelaufen.» «Dadurch haben wir zwar besser ausgebildetes, aber immer noch zu wenig Personal.» Die Betriebe werden richtiggehend gegeneinander ausgespielt. «Ich will immer sonntags frei, dazu an einem Wochenende im Monat. Einen 8.5 Stunden Tag und das ist meine Lohnforderung.» So sehen Bewerbungsgespräche aus. Legitime Bedingungen, doch in der Gastronomie nur schwer umsetzbar. Die Situation hat sich gewendet, nicht der Arbeitgeber, sondern der Arbeitnehmer stellt die Bedingungen. Und dies nicht mal von ausgebildetem Personal.
Trinkgeld versteuern
Eine weitere Sache bereitet der Gastrobranche schlaflose Nächte: «Der Bund will, dass Trinkgeld künftig von den Arbeitnehmern versteuert wird.» Bisher ein «Zückerli» beim Personal und Anreiz, sich bei der Arbeit besonders zu bemühen. Oftmals werde heute mit der Karte statt mit Bargeld bezahlt. «Auf der Abrechnung sind die Trinkgelder ersichtlich. Der Bund wittert zusätzliche Steuergelder.» Für die Mitarbeitenden im Service wäre diese neue Regelung einschneidend. Das Trinkgeld war jeher ein Zustupf für gute Leistung und nicht Teil des Lohns. «Die Regelung wird im Oktober vors Parlament gebracht. Statt dem Personal weitere Anreize für den Beruf zu geben, machen sie diesen noch unattraktiver», klagt Siegwart.
Nachfolge fast unmöglich
Selbst ein Restaurant zu führen, sei für «Junge» fast nicht realistisch. «Ohne stattliches Eigenkapital ist es unmöglich, ein Restaurant zu übernehmen.» Die alte Garde sei es, welche die Gastronomie aktuell aufrecht erhalte. Respektive deren Nachkommen. «Ich bekomme immer wieder Anrufe von Besitzern, die ihr Restaurant verkaufen wollen. Sie fragen, ob wir jemanden auf der Warteliste haben, der an solch einem Lokal Interesse haben könnte.» Seine Antwort sei stets die gleiche: «Wir können gerne dabei helfen, allerdings sind die Chancen gering und leider ist die einzige Option oftmals, Wohnungen aus den Lokalen zu machen.»
Die Arbeitsbedingungen bei Köchinnen und Köchen seien zwar die gleichen, doch der Branche gehe es gut. «Das dank den TV-Köchen und Influencern auf den sozialen Medien. Kochen ist im Trend.» Die Gastrobetriebe seien natürlich froh, dass für Nachwuchs gesorgt sei, doch Jugendlichen, welche diese Medieninhalte konsumierten, werde ein falsches Bild des Berufs vermittelt – auch wenn dieser spannend, kreativ aber eben auch streng sei.
«Ganz anders sieht es bei den Metzgern aus», so Marcel Siegwart. «Gerade mal drei Lernende gibt es in der ganzen Ostschweiz zu verzeichnen». Dorfmetzgereien schlössen am laufenden Band. Aktuell werden Gastarbeiter aus Ungarn oder Polen als «Akkordmetzger» eingestellt. In der Schweiz ist es fast aussichtslos, Fachpersonal zu finden. Doch wünschen die Leute Schweizer Fleisch. «Wohl wird es sich so entwickeln, dass das Metzgerhandwerk verschwindet und fabrikmässig ausgeführt werden wird. Dass Gastarbeiter wie am Laufband einzelne Arbeitsschritte übernehmen.»
Arbeitgeberverbände entspannt
Den Fachkräftemangel spüren einige der Mitgliederfirmen der Arbeitgeberverbände, doch mit eigenen Fördermassnahmen hält sich die Panik in Grenzen. So auch in Kreuzlingen: «Bei uns war der Fachkräftemangel nie ein Thema im Verband», sagt Attila Wohlrab. Der Präsident des Arbeitgeberverbands Kreuzlingen spürt sogar, dass mehr Fachpersonal zur Verfügung steht. Ein Problem sei es bei ihm und seinen Mitgliedern aber nie gewesen, spricht er pauschal für diese. «In unserem Verband sind so viele Branchen vertreten, welche andere Ansprüche an ihr Personal haben. Es bringt nichts, wenn ein Schreiner einem Metallbauer Tipps gibt, wie er zu Mitarbeitenden kommt.»
Betriebe müssen selbst schauen
Von den Massnahmen zur Förderung des Fachpersonals hätten sie nichts gespürt. «Wir wissen nicht einmal, um was für Massnahmen es sich hierbei handelt.» Seine Devise: «Jeder Betrieb muss für sich selbst schauen. Aktiv Öffentlichkeitsarbeit betreiben und Jugendliche bereits im Schulalter zu einem Schnuppertag einladen», so Attila Wolhrab. Hierfür organisieren viele Mitglieder des Verbands seit Jahren die «Betriebstage». Ziel sei es, Jugendlichen und ihren Familien die Möglichkeit zu bieten, in verschiedene Berufe und vor allem in die lokalen Betriebe, einen Einblick zu bekommen. Ganz niederschwellig ohne Vereinbarung einer Schnupperwoche. Die Schülerinnen und Schüler sollen spüren, ob die jeweilige Ausbildung zu ihnen passen könnte – so wie auch der «Spirit» des Teams. «Dadurch wird eine Grundlage geschaffen, auf welcher der vertiefte Berufswahlprozess aufbauen kann.» Diese Massnahme hätte den Arbeitgebern des Verbandes bisher guten Nachwuchs gesichert.
Zusammenarbeit zu aufwändig
Dominik Hasler, Präsident «Arbeitgeber Mittelthurgau», sieht der Thematik ebenfalls entspannt entgegen. Das Angebot, die Hälfte der Weiterbildungskosten zu übernehmen, wurde mehrfach von seinen Mitarbeitenden angenommen. Im Gegensatz zu Marcel Siegwart findet Dominik Hasler diese Fördermassnahme als sinnvoll, denn: «So entstehen wieder neue Fachkräfte innerhalb eines Betriebs.» Ansonsten spüren auch die Arbeitgeber im Raum Weinfelden nichts direkt von den Massnahmen des Bundes. Nachwuchsförderung betreibt bei Bedarf jeder Betrieb auf eigene Faust bei den Arbeitgebern Mittelthurgau. Ein Programm wie die Betriebstage der Kreuzlinger Kollegen sei rein von der geografischen Ausrichtung her nicht möglich. «Unsere Mitglieder verteilen sich von Bischofszell bis nach Affeltrangen.»
Gefahr vor Marktverzerrung
Der Industrie- und Handelsverein der Region Frauenfeld (IHF) setzt in Sachen Nachwuchsförderung hingegen auf eine Zusammenarbeit der Mitgliederfirmen. «Die Betriebe arbeiten mit den Bildungspartnern zusammen und engagieren sich gemeinsam im Berufswahlprozess», erklärt Vorstandsmitglied Andrej Rudolf Jakovac. Der IHF vertritt 58 Unternehmen aus der Region Frauenfeld, die in den Bereichen Industrie, Handel und Bau tätig sind. Diese beschäftigen mehr als 6600 Mitarbeitende und bilden über 300 Lernende aus. «Bei unseren Mitgliedsfirmen gestaltet sich die Mitarbeitersuche in den Bereichen Engineering, IT, Marketing oder Business Development anspruchsvoll. Ebenso bei Fachleuten mit technischem Hintergrund ohne Kaderfunktion.» Gleichzeitig gebe es Mitgliedsfirmen, bei denen viele ausgeschriebene Stellen besetzt werden können. «Von einem generellen Mangel würden wir nicht sprechen.» Er ist wie Atilla Wohlrab überzeugt, dass jeder Betrieb, abgesehen von der Nachwuchsförderung, für sich schauen muss, dass er attraktiv für seine und potenzielle Mitarbeitende ist: «Wettbewerb ist ein gesunder Zustand, der Schöpfungskraft fördert. Staatliche Eingriffe können gut gemeint sein, führen aber oft zu mehr Regulierung oder Marktverzerrungen, die von Wirtschaft und Gesellschaft mühsam aufgefangen und bezahlt werden müssen.»
Von Desirée Müller